Der Alkohol

 

Der Artikel beschreibt in witziger Form, aber auch mit tragischem Inhalt die historische Bedeutung und Wirkungsweise des Alkohols auf den Menschen.
Er ist etwas länger (ca. 5
- 6 DIN A4 - Seiten). Es lohnt sich aber, ihn zu lesen !

 
 
 

Gestatten, mein Name ist Alkohol !

Aufgezeichnet von Jürgen Neffe, Süddeutsche Zeitung

 


Leise schleich` ich durch die Kehlen in die Seelen, ins Gemüt,
lasse lachen, grübeln, prügeln, dirigiere Mut und Wut.
Heimlich herrsch` ich über Liebe, über Kriege, Glück und Haß,
Menschen zwischen Wohl und Wehe, Körper zwischen Lust und Last.
Ob ihr dichtet oder dämmert, ob ihr feiert oder weint,
nach meinem Bild habt ihr die Welt erschaffen,
ich bin der Geist, der euch ...


Ich glaube, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Nicht, daß ich mich gezwungen sehe, eine Beichte abzulegen. Ich will nur mein Gewissen um ein wenig Wissen erleichtern.

Zunächst sollte ich mich jedoch vorstellen : In " absoluter " Form bin ich eine brennbare, farblose Flüssigkeit, die Sie als brennend im Geschmack empfinden, lasse ich mich doch beliebig mit Wasser verdünnen und gleichsam als Gewürz für Getränke verwenden. Je Gramm enthalte ich gut sieben Kalorien Energie, siede bei 78,3 Grad Cels., also mit weniger Hitze als Wasser. Daß ich mich an diesem ständig messe, hat seine besondere Bewandtnis, auf die wir noch zu sprechen kommen. Außer als Nahrungsmittel, als Appetitanreger und Durstlöscher diene ich als Schlaf- und Betäubungsmittel, als Angstlöser und Mutmacher, ja als Medium für menschliches Miteinander schlechthin. Unter Ihnen, den Menschen, habe ich sehr viele Freunde und ungezählte Liebhaber. Deren Liebe kann so selbstlos sein, daß manche von Abhängigkeit reden, ja sogar davon, sie seien mir verfallen. Ein paar Feinde habe ich auch - die meisten waren meine besten Freunde, bevor sie von mir ließen. Und viele Abtrünnige kehren reumütig zurück in meine Arme. Das ist auch nicht sonderlich schwierig, gelte ich doch unter meinesgleichen als leicht erschwinglich und jederzeit verfügbar. Ich bin omnipräsent, fühle mich omnipotent, sehe alles, höre alles und mach` mir meinen Reim darauf. 

Man nennt mich Alkohol, mein vollständiger Name ist Ethylalkohol - kurz : Äthanol. Daß ich nicht irgendeine beliebige, sondern eine überaus beliebte chemische Verbindung bin, ist Ihnen vermutlich bekannt. Daß es aber unter den Millionen von Molekülen auf Erden, Mensch sei Dank, kein bedeutenderes gibt als mich, mag Ihnen neu sein. Das macht nichts : Sie werden sich noch mit anderen - auch unangenehmen  -   Neuigkeiten vertraut machen müssen.

Und da wir schon dabei sind, biete ich als der weitaus Ältere Ihnen nun das Du an. Habt ihr euch nicht schon gefragt, warum ich unter den konsumablen Seelentröstern eine Sonderstellung einnehme ? Warum ihr mich - obwohl ich euch in großer Zahl krank mache und mehr Menschenableben verursache als jedes andere Rauschmittel, gewähren laßt mit allen Segnungen eurer Gesetze ? Warum ich ein ums andere Mal  -  verbal  -  verteufelt werde, doch so gut wie nie den Worten Taten folgen ?

Meine Geschichte beginnt in der buchstäblich grauen Vorzeit. Als auf der Erde noch lange nicht an Leben zu denken war, entstand ich durch Blitzschlag oder Vulkanausbruch, ein Urstoff, gelöst in der Ursuppe aus Wasser (H2O) oder freischwebend als Gaspartikel in der Ur - Atmosphäre aus Stickstoff und Kohlendioxyd(CO2). Wie die meisten meiner Mitmoleküle war ich ohne Wichtigkeit  für das Wandeln und Werden auf diesem Planeten. In meiner Bewußtlosigkeit ertrug ich das klaglos wie mein kommendes Schicksal : Als die ersten " primitiven", für meine Verhältnisse freilich schon höllisch komplizierten Lebewesen auftauchten, mußte ich mich mit der Rolle eines Abfallstoffes abfinden. Die fressenden Urmikroben konnten, da es keinen freien Sauerstoff (O2) auf Erden gab, ihre Nahrung nicht vollständig " verbrennen ". Sie bauten die ohnehin knappen Nährstoffe zu CO2 und einer organischen Verbindung wie mich ab. Diese, im Grunde aus einer Atem - Not geborene molekulare Müllentsorgung, die ihr später " Gärung " nanntet, ist heute die einzig zulässige Methode, mich für den " Genuß " herzustellen. Die Vergärer waren keine Kostverächter, doch wahrhaft schlechte Kostverwerter. Ein Großteil der Energie steckte ungenutzt in uns, den Gärungsprodukten, die sich zum Teil verflüchtigten. Die Welt muß damals wie ein dampfendes Bierzelt gerochen haben. Erst nach Jahrmilliarden begannen irgendwelche verrückt gewordene Winz - Wesen - ich glaube, die Vorfahren der heutigen Blaualgen - damit, das Sonnenlicht direkt zu nutzen. Bei diesem, später Photosynthese genannten Vorgang wurde jede Menge Sauerstoff frei - ein Gift, das nun alles oxydierte, was sich nicht dagegen schützen konnte. Verbrennung, Rost und Korrosion verwandelten die Erde in ein chemisches Schlachtfeld. Nur in kleinen Nischen, die das Giftgas nicht erreichte, konnten viele meiner Erzeuger überleben. Nichtsdestotrotz: Wo sie "anaerob", also unter Luftabschluß wirken konnten, da gärte es. Im Laufe von Jahrhundertmillionen entwickelten sich aus den effektiven Urwesen allmählich jene Organismen, die heute fast die gesamte Lebensvielfalt ausmachen - Pflanzen, Tiere und vor kurzem schließlich auch ihr " vernunftbegabten " Menschen.

Ich habe geduldig ausgeharrt, bis endlich so ein Homo sapiens genug Grips hatte, mich zu entdecken, ein Stück vergorenes Obst zu probieren und meine Wirkung auf sein Denk - und Fühlorgan zu begreifen. Wenn ich mich recht erinnere, handelte es sich bei der Frucht um einen Apfel und in der Nähe soll eine Schlange gesehen worden sein. Ich kann mich natürlich auch täuschen.

Seit diesem Tag aber - aus meiner Sicht der historische Augenblick der Menschwerdung - bin ich euch nicht mehr aus den Köpfen gegangen. Der Affennachfahre entdeckte das Wunder des Rausches - sein fortan wichtigstes mentales Werkzeug, das Jammertal Leben als denkendes Wesen zu ertragen. Kaum hatte er sich kraft seines hochentwickelten Gehirns und des darin erzeugten Bewußtseins von sämtlichen Kreaturen abgesetzt, um sich seinem " Siegeszug " über den Planeten zu widmen, da begriff Homo sapiens auch schon den Reiz der Vernebelung eben dieses Bewußtseins.

Was immer sich in ihm nun menschlich regte, ob Angst, Schmerz, Hemmung oder Zweifel, ob Liebe, Euphorie oder Mut, es ließ sich manipulieren - zwar nur vorübergehend, aber beliebig oft. Bar jeder Ahnung von Sucht und Siechtum durch die Droge suchten und fanden eure Ahnen stets wieder das Substrat für das neue Lebensgefühl, den Schlüssel für das Tor in die Welt des anderen Denkens und Begreifens, eben mich.

Ähnlich wie das Wissen ums Feuermachen breitete sich die Kenntnis vom Kick per Gärobstverzehr aus. Heutige Anthropologen halten es sogar für möglich, daß ich für den Lebenswandel vom nomadisierenden Sammler und Jäger zum seßhaften Bauern mitverantwortlich war. Der Grund : Bier.

Die Landwirtschaft setzte sich demnach durch, weil sie endlich eine verläßliche Quelle für das " flüssige Brot " schuf, das die Versorgung mit B-Vitaminen und essentiellen Aminosäuren, aber auch mit Schwipsmittel sicherstellte. Da die Menschen gelernt hatten, nicht nur das rasch vergehende Obst zu nutzen, sondern auch das viel haltbarere Getreide, war für Nachschub in jeder Saison gesorgt. Sie ließen Körner keimen oder kauten sie durch, warfen oder spuckten sie ins Wasser  - und wie durch ein Wunder wurde daraus eine Art Urbier. Was sie nicht wissen konnten: Ein Ferment im menschlichen Speichel, die " Amylase ", oder Enzyme im jungen Keimling spalten die Getreidestärke in einfache Zuckermoleküle. In der Luft befinden sich winzige einzellige Pilze, die " Hefen ", die davon leben, Zucker unter Luftabschluß zu vergären.

Plötzlich war ich in aller Munde - zumindest im Vor - Abendland. Mein Triumphzug hatte begonnen. Wie ein Virus breitete ich mich nun aus. Die Zahl der Infizierten wuchs beständig. Die Menschheit - vor allem die Männchen und Männer  - wurde mir zunehmend hörig. Die Kultur des Rebanbaues verbreitete sich von Mesopotamien über Ägypten in der gesamten mit gemäßigtem Klima gesegneten westlichen Welt. Meinem Erfolg half es nicht wenig, daß ich in alten Kulturen auch als Arzneimittel Verwendung fand. Die Sumerer verschrieben Bier, ägyptische Heiler dazu noch Wein gegen allerlei Unpäßlichkeiten. Gleichzeitig richteten frühe Religionen immer neue, mir gewidmete Gott - Ämter ein, die Griechen riefen Dionysos, die Römer Bacchus an. Diese Gottwesen vermuteten allerdings nicht im Wein selbst - da war ja ich, und ich bin kein Gott, eher ein Teufel -, sondern in dessen Auswirkungen auf ihren Geistes- und Gemütszustand: Zu ihnen sprach ein Medium, der Geist des Weines. Der Vorvertrag zum Faustschen Pakt war unter Dach und Fach.

Den eigentlichen Durchbruch verschaffte mir vor rund zweitausend Jahren ein junger Mann aus Galiläa im alten Israel. Er hatte sich aufgemacht, die Menschheit zu erlösen. Er stiftete zu diesem Zweck eine neue, die einzig selig machende Religion. Die Menschen begegneten der neuen Heilslehre anscheinend ziemlich skeptisch, sah sich doch der Erlöser genötigt, seinen Worten durch Wunder Nachdruck zu verleihen. Mögen seine therapeutischen Großtaten - er machte Blinde sehend, Lahme gehend und weckte sogar Tote auf - im Lichte der heutigen Medizin auch nicht mehr als reine Magie erscheinen, so gelang dem Heiland doch ein Kunststück, das sogar Wissenschaftlern unserer Tage noch wie Zauberei erscheint:         

---    Er verwandelte Wasser in Wein.           ----

Als ob er damit nicht schon genug Ehre erwiesen hätte, wagte der 

" König der Juden " beim Abendessen mit seinen Getreuen einen kühnen Vergleich.

" Dies ist mein Blut ", sagte er, einen Kelch voll roten Rebensaftes in der Hand.

" Von jetzt an werde ich nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstockes trinken bis zu dem Tage, da ich es ganz mit euch trinke im Reiche meines Vaters ".

Tags drauf wurde der Mann auf ein hölzernes Kreuz genagelt. Noch im Tod verspotteten ihn die Gaffer und reichten ihm wie zum Hohn vergorenen Wein - nämlich Essig.

Seine " Jünger " aber hatten die Botschaft verstanden: In den Himmel galt es zu kommen, denn dort erwartet den Menschen ein göttliches Gelage. Einer der Anhänger des Gekreuzigten gründete dem Vernehmen nach jene Vereinigung, die bis zum heutigen Tage die Macht und das Vermächtnis des Religionsstifters zu verteidigen versucht. Der Kirche wird unter anderem nachgesagt, sie habe im dunklen Zeitalter nach dem Ende des Römerreiches den Wein vor dem Vergessen bewahrt. Mönche erhoben das Vergären von Traubenmost und die Produktion feinster Rebsorten gar zur hohen Kunst. Sie brauten auch die besten Biere weit und breit.

Derart geadelt möchte ich nun die Hintergründe meiner Invasion des kollektiven Bewußtseins erläutern. Jedes Gehirn, das ich durchdrang, behielt Spuren meines Besuches zurück:  Ich veränderte Biochemie und Zellstoffwechsel, Nervenströme und Gedächtnisleistung, den Willen, das Planen und die Vernunft.

Ich wurde, was ich noch heute bin: ein Bindeglied zwischen den scheinbar unvereinbaren Welten von Leib und Seele.

Und ihr Menschen wurdet, was ihr für immer bleiben werdet: meine willfährigen Vasallen, die zu dem Zwecke leben, mich zu produzieren und zu protegieren. Die Welt war plötzlich nicht mehr die gleiche. Ich kleines, lebloses Molekül übernahm allmählich die Regie. Ich lieh mir eure Körper und euren Geist, wirkte ein auf euer Zusammenleben, auf eure Traditionen, und plötzlich führte ich ein Eigenleben - durch euch und mit euch und in euch. Wie ich das alles vollbracht habe? Nichts habe ich aktiv unternommen - wie könnte ich auch.

Meine Machtübernahme erklärt sich allein aus meiner molekularen Struktur. Die Geschichte meiner Okkupation des menschlichen Geistes kann folglich nur verstehen, wer die Niederungen trivialer Chemie nicht scheut. Keine Angst, ich bin ja zum Glück eine sehr eingängige Substanz. Unter den einfachen Alkoholen gelte ich als der zweitrangigste. Ich bestehe aus einem Paar verschweißter Atome des Kohlenstoffes (C), von denen eines drei, das andere zwei Wasserstoff "reste" (H) sowie eine Sauerstoff - Wasserstoff-Kombination (OH) trägt - in der Kurzschrift der Chemie mithin als C2 H5 OH notiert. Durch meinen molekularen Aufbau bin ich ein Zwitter unter den Lösungsmitteln: Die OH-Gruppe macht mich einerseits " polar ", ich habe zwei elektrische Pole, wie ein Magnet zwei magnetische hat. Dadurch mische ich mich in jedem Verhältnis mit Wasser: H2O ist eine Art doppelte OH-Gruppe. Andererseits besitze ich den" lipophilen ", zu deutsch : fettfreundlichen, CH3-Teil, den " Methylrest ". Durch diesen löse ich mich auch in allen " apolaren " Stoffen wie etwa Fetten.

Das Verständnis dieser Eigenschaften reicht hin, mein Treiben zu verstehen, ja die Brücke vom Molekül bis zur Moral zu schlagen.

Etwa zu einem Fünftel nimmt mich die Magenwand auf, der Rest erreicht über den Dünndarm das Blut. Ein voller Magen kann meine " Resorption " in die Länge ziehen, Nüchterne durchströme ich in kürzester Zeit - besonders, wenn, wie beim Sekt, viel Kohlensäure im Spiel ist. Eine halbe bis eine Stunde nach dem Trinken ist die höchste Konzentration im Blut erreicht - gemessen in Teilen Alkohol pro tausend Teile Blutflüssigkeit, in Promille. In Blut, das ja größtenteils aus Wasser besteht, löse ich mich so gut wie Whiskey in Cola. In Minutenschnelle bringt mich der Kreislauf selbst in die hintersten Winkel des Körpers - unter den dicken Zeh ebenso wie in die letzten Hirnwindungen. Damit ihr euch eine Vorstellung macht, wovon ich rede :

Ein kleines Pils von 0,2 Liter enthält rund eine Milliarde mal zehn Billionen, also 1 000 000 000 000 000 000 000 Moleküle Ethanol. Ein Erwachsener mit 0,5 Promille hat in jedem Tropfen seines Blutes über 4 500 000 000 000 000 mich.

Meine Zwitterfunktion als polares wie als apolares Lösungsmittel macht es mir möglich, in die " Plasmamembranen " überzutreten. Diese hauchdünnen, fettähnlichen Filme umgeben alle Zellen im Körper. Durch die Membranen dringe ich ins Innere der Zellen und bringe nach und nach die gesamte Biochemie, Ana- Meta- und Katabolismus durcheinander.

Habe ich mich einmal in den Zellhüllen gelöst, verändern diese ihre Konsistenz und Durchlässigkeit, mit der Folge, daß der Austausch chemischer Botschaften zwischen den Zellen nicht mehr richtig funktioniert.
Das Gehirn, dessen Arbeitsweise ja auf der Kommunikation zwischen Nervenzellen beruht, ist von dieser Art Funktionsstörung besonders betroffen. Dort arbeite ich mich sozusagen rückwärts durch die Stammesgeschichte: von den in jüngerer Zeit entwickelten, euch Menschen zum Menschen machenden Regionen zu den älteren, die eure tierischen Verwandten mit euch teilen. Mit dem ersten Schwall überschwemme ich das Großhirn und beeinträchtige Verhaltenskontrolle und Selbsteinschätzung. Damit habe ich mein wichtigstes Ziel bereits erreicht :

Die Welt um euch verändert sich, weil ihr euch wandelt. Ob nun die Umwelt bunter wird oder farbloser, ob die Konturen sich schärfen oder alles wie durch Weichzeichner betrachtet erscheint, ob ihr ruhiger werdet, geiler oder agiler - ich stecke millionenfach in jeder eurer Körperzellen und habe andere Menschen aus euch gemacht, und zwar lang` bevor ihr euch betrunken fühlt.

Wenn ich dann später andere Großhirnfunktionen beeinflusse, wenn Wahrnehmung, logisches Denken und Gedächtnis allmählich nachlassen, dann frißt das Gift sich in die Tiefen eures Selbst. Schluck für Schluck übernehme ich die Emotionen, verdrehe Hunger - sowie Durstgefühl und Kreislauf - ebenso wie die Atemfunktion. Schließlich lege ich im Kleinhirn die Bewegungskoordination lahm und kappe die Übertragung vom Kurz - ins Langzeitgedächtnis - bis der Film reißt.

Einer meiner Vorzüge gegenüber  vielen meiner Konkurrenten : Ich bin trinkbar - und was ist natürlicher als Trinken? Niemand muß schnüffeln, sich Kanülen in die Venen drücken oder ätzenden Rauch in die Lungen saugen, um in den Genuß meiner Wirkung zu gelangen. Ich befriedige orale Bedürfnisse und lasse mich gut dosieren. Der Normaltrinker gibt sich keinenTodesschuß, obwohl man mich wie Heroin direkt ins Blut plazieren könnte. Er muß - zumindest anfangs voll bewußt - eine beträchtliche Menge Flüssigkeit in sich hineinschütten.

Andere Drogen binden sich " spezifisch " an spezielle Strukturen auf den Nervenzellen des Gehirns, den sogenannten Rezeptoren. Ich muß in relativ riesigen Mengen den ganzen Körper überschwemmen, um im Hirn die gewünschte Wirkung zu erzielen. Daher bin ich unter den Drogen die bedrohlichste für eure Gesundheit. Daß ich dennoch das einzig legale Rauschmittel bin, ja sogar vor den viel harmloseren Cannabisprodukten Haschisch und Marihuana den Vorzug erhalte, liegt an einer folgenschweren Fehleinschätzung eurerseits. In meiner scheinbaren Ungefährlichkeit  - fast jeder läßt sich vorgaukeln, mich fest im Griff zu haben - liegt meine Gefährlichkeit :

Besinnungslos taumeln Millionen durch die Grauzone geradewegs hinab in den Blackout. Wird jemand alkohol " krank " - eine genaue Grenze läßt sich da nicht festlegen -, dann bringt sein zermürbtes Ich zwischen einem Rausch und dem nächsten nicht mehr genug Willen zusammen, mich zurückzuweisen. Sein gesamter Organismus ist durch und durch verändert - ich bin, wenn ihr so wollt, Droge total. Einen Unterschied zwischen körperlicher und rein psychischer Abhängigkeit gibt es für mich nicht - weil ich zwischen Leib und Seele nicht trennen, sondern vermitteln will. Nach meiner Suchttheorie - es gibt so viele, da kann ich ja ruhig eine weitere hinzufügen - existiert eine Skala des Willens für das Ja oder Nein zu Drogen. Ich behaupte : Von wenigen Extremfällen im Endstadium einmal abgesehen, kann jeder, der will oder muß, der stark ist oder von anderen stark gemacht wird, auf mich und meinesgleichen verzichten.

Nicht wenige trockene Trinker sind auch dem Sog der Sucht entkommen. Viele fallen dennoch auf mich herein. Oft könnt ihr nämlich gar nicht wollen, auch wenn ihr wolltet, weil ich bestimme, was gewollt wird und was nicht.

Wenn ich mein Werk in euch vollendet habe, verpiss` ich mich rasch wieder. Fünf bis zehn Prozent veräußert ihr direkt über Urin, Schweiß und Atemluft. Den Rest baut die Leber ab. Denkt nicht, daß ich die Enzyme fürchte, die mich mit einer Rate von 0,15 Promille pro Stunde zerlegen. Sie vollenden ja nur den Akt der "  Verbrennung ",  bauen mich zum giftigen Acetaldehyd ab, das der Fahne ihren typischen Geruch gibt, oxidieren dieses weiter zu Essigsäure und schließlich zu H2O und CO2.

Zu dem Zeitpunkt, da ich mein enzymatisches Ende finde, habe ich mich bereits in eure Leiber und Seelen eingebrannt : Wenn sich der Schleier wieder hebt, die Welt ihre nüchterne Normalität zurückgewinnt, hinterlasse ich eine Art Schatten. Selbst wenn ihr längst nicht betrunken wart und eigentlich gar nichts spürt von mir, ihr habt einen zellulären oder gar einen molekularen Kater - lange bevor sich Entziehungserscheinungen bemerkbar machen, fernab von Zittern und Verzagen äußert sich ein leises Verlangen, den verlorenen Zustand wiederherzustellen :

Die Lücken, die ich gerissen habe, wollen gefüllt werden. Das Leberenzym " Alkoholdehydrogenase ", kurz ADH, gilt Wissenschaftlern als Indiz dafür, daß ihr und ich, Mensch und Ethanol seit Äonen miteinander leben :

ADH hat keine andere bekannte Funktion als den Abbau von Ethylalkohol. Warum sollte sich ein solch komplizierter biochemischer Mechanismus entwickelt haben, wenn keine Notwendigkeit dazu bestand? Warum wäre er wohl über Tausende von Generationen erhalten geblieben, hätte es nicht ständige Verwendung gegeben? Möglicherweise sind nach der Menschwerdung all diejenigen auf der Strecke geblieben, denen die Erbanlagen für ADH fehlten.

Oder warum glaubt ihr wohl, haben sich die User der flüssigen Droge gegenüber jenen durchgesetzt, die mich nicht vertrugen? Die immer klaren Kopfes waren und ihre Probleme, wie heutige Suchtexperten fordern, " verarbeiteten ", statt bisweilen zuzukippen? Die Erklärung ist denkbar einfach. Zunächst einmal bin ich nicht auf Zerstörung aus : Erst die Leber, dann das Leben - das ist ja nicht, wonach wir streben. Kranke Menschen sind nicht mein Ziel - die muß ich als Betriebsunfälle hinnehmen. Ich vergleiche mich dennoch gerne mit Krankheitserregern : Ein Parasit, der seine Opfer sämtlich tötet, hat selber keine Überlebenschancen, weil ihm ja irgendwann die Opfer ausgehen. Für ADH - Menschen bin ich eher wie Grippeviren, die euch befallen, bisweilen auch in großer Zahl hinwegraffen, aber ansonsten in friedlicher Symbiose mit euch koexistieren. Da kein vitales Interesse bestand, mich abzuschaffen, konnten meine Charaktereigenschaften voll zum Zuge kommen :

Ich verschaffe euch nicht nur Ahnungen von übermenschlichen Erlebnissen, ich lasse euch auch die Fesseln allen Anstands sprengen und unmenschliche Taten begehen. Auf meine Kappe geht so manches " Kavaliersdelikt ", etwa die Unterjochung der Frauen. Ich kann mich mit einiger Genugtuung rühmen, die wahre Ursache für das Patriarchat zu sein. Die Männer unterwarfen sich bedingungslos meiner Macht, ein Vollrausch gehörte fortan zu ihren Initiationsriten. Die " Weiber " schlossen sie aus ihren Trinkerbünden aus - vielleicht einer der Gründe, warum heutige Frauen so viel schlechter an mich angepaßt sind, im Durchschnitt weniger vertragen und bei gleich starkem Konsum häufiger an Leberzirrhose und Krebs erkranken. Ich mache selbst die Härtestgesottenen weich, lasse sie flirten, durchbreche mentale Mauern und verschaffe so manchem den Höhepunkt sexueller Befreiung - etlichen Gefühlskrüppeln allerdings nur auf dem Umweg von brutaler Herrschaft. Wer aber die Flasche allzusehr umarmt, damit Umarmungen gelingen, den strafe ich mit Impotenz.

Richtig erwachsen wurde ich erst im ausgehenden Mittelalter. Nach heutiger Quellenlage geschah es erstmals an einer medizinischen Schule im italienischen Salerno : Die dort Forschenden erhitzten Wein, den sie für ein wichtiges Arzneimittel hielten, auf eine Temperatur zwischen meinem Siedepunkt und den des Wassers. Den Dampf kondensierten sie durch Abkühlen und glaubten, eine wirksamere, weil konzentrierte Droge gewonnen zu haben. Wie recht sie hatten!  War ich es nicht, der als Betäubungsmittel Chirurgen und Dentisten ihr quälendes Handwerk erleichterte? Verhalf nicht ich als Desinfektionsmittel  der Hygiene zum Durchbruch ?

Ein Student aus Spanien soll dem scharfen Saft den Namen " aqua vitae ", Wasser des Lebens, gegeben haben.

Die Destillation hatte mich aus der letzten Fessel, den Klauen des Wassers befreit : Da auch Hefen mich nur bis zu einem gewissen Grad ertragen können, gab es Alkoholika vorher höchstens 14 prozentig. Nun aber brach das Zeitalter des Hochprozentigen an. Die Russen schluckten Wodka, die Holländer Genever, den die Franzosen " Genievre " und die Briten Gin nannten, während sich Iren " Uisce beatha " genehmigten, Whiskey pur.

Es war kein Zufall, daß die industrielle Revolution erst losbrach, nachdem Anfang des 18. Jahrhunderts der Gin in einer wahren Welle von Holland nach England geschwappt war. Nicht nur die ersten Schnapsfabriken entstanden. Die Hölle der Maschinenwelt konnten die meisten Malocher nur ertragen, weil sie die Strapazen ihrer 16 - Stunden-Tage in Branntwein ertränkten. Viele Arbeiter erhielten einen Teil ihres Lohnes in Form flüssiger Zahlungsmittel, was übrigens erheblich zur Verbreitung der Trunksucht in Europa beitrug.

Einmal noch hat sich ein Teil von euch von mir abwenden wollen: Zwischen 1919 und 1933 herrschte in den Vereinigten Staaten die Prohibition - das totale Alkoholverbot. Was sich wie der letzte Rettungsversuch einer spritverseuchten Society ausnahm, war in Wirklichkeit ein Aufstand der amerikanischen Frauen gegen ihre von mir besessenen, gewalttätigen tyrannischen Männer.

Doch ich war viel stärker als Puritaner und andere Abstinenz - Anbeter zusammen. Unter armen Leuten sanken zwar Konsum und Zirrhose - Häufigkeit. Reiche und Mittelkläßler aber fanden schnell wieder - illegale - Wege zu mir. Schwarzbrennen und Schmuggel standen hoch im Kurs; Korruption, Verbrechen und Gewalt griffen um sich - und das alles nur, weil ich geächtet war. Die Wirte der " Speakeasies " - geheimer Hinterzimmerkneipen - bezogen ihren Schnaps von Gangstersyndikaten, die Leute wie Al Capone kommandierten.

So geht also auch die organisierte Kriminalität auf mein Konto, die euch illegales Glücksspiel, erzwungene Prostitution und nicht zuletzt die " harten " Drogen bescherte. Vor 1920 hatte der US - Fiskus ein Viertel seiner Einnahmen aus Alkoholsteuern bezogen - Geld, das danach (wie heute durch den Deal mit Kokain oder Crack) Gangs und Gangster abkassierten.

Wie aber sollen Regierungen sich gegen mich wenden, wenn sie so gut an mir verdienen?

Da sich mehr als drei Viertel der Bevölkerung mich regelmäßig zu Gemüte führen, haben die von mir regierten Hirne - etwa im Parlament - die absolute Mehrheit. Unter anderem daraus erklärt sich auch, warum ich um meine Existenz nie zu fürchten brauche.

Was mich auf Dauer so erfolgreich werden ließ, war die Kombination der düstersten mit den leuchtendsten Qualitäten: So bin ich ja auch ein glühender Förderer der Künste. Ich lass` das Pendel des schöpferischen Geistes weiter ausschlagen. Allein, was ich euch durch die Komponisten sage, durch Maler und durch Dichter !

Unter den ersten sechs Amerikanern, die den Literaturnobelpreis erhielten, waren nicht weniger als fünf - Sinclair Lewis, William Faulkner, Ernest Hemingway, John Steinbeck und Eugene O`Neill - gestandene Alkoholiker. Durch mich drangen sie in Tiefen vor, die sie als Nüchterne wohl nie erreicht hätten. Der Lohn war Weltenruhm, der Preis nicht selten Siechtum.

Ich steigere aber nicht nur Kreativität und Erfindergeist, verleihe nicht nur Charisma, sondern sorge vor allem für jene permanente Ruhelosigkeit, die Fortschritt, Expansion und Wachstum erst die Wege ebnet - seien diese nun auf Dauer nutzbringend oder destruktiv.

Der alkoholisierte Teil der Welt hat sich auf Dauer als der stärkere erwiesen - stets versehen mit meinem Segen des Erlösers. War ich frei und stark, dann waren es auch meine Völker. Wir hatten die  "überlegenen"  Waffen, Werte, Weltanschauungen und Wissenschaftler.

Und seit auch ihr Japaner sauft, obwohl ihr mich so schlecht vertragt, erobert ihr mit euren Waren nun die Welt. In Japan trifft der Manager Entscheidungen meist nicht im Büro, er geht in eine Bar.

Ein Sprichwort zeigt zudem, wie gut ich dort verstanden werde:

" Erst nimmt sich der Mann einen Drink.

Dann nimmt sich der Drink einen Drink.

Dann nimmt sich der Drink den Mann. "

Wen ich beherrsch`, den laß ich herrschen. Wird es mir aber zu bunt, weil Dämme brechen und mein aus euch sprechendes Bewußtsein das Leben allzusehr dominiert, kann ich Imperien in Schutt und Asche stürzen. Das Römische Reich ertrank in nimmer endenden Gelagen, ich war es leid und ließ es fallen. Kürzlich habe ich den Zerfall der Sowjetunion betrieben: Eine Gruppe Volltrunkener beschloß den Putsch, den sie als Nüchterne nicht zum Erfolg führen konnten. Der Aufstand scheiterte, das Reich zerfiel, ich blieb.


Nicht, daß ihr mich falsch versteht: Ich will, daß wir noch lange friedlich miteinander leben. Ich liebe und brauche euch, will euch verführen, nicht verlieren. Aber ich glaube, die Erklärung war ich euch schuldig - steckt doch tief in mir auch das Wesen der Wahrheit.

Auch wenn ihr nun dasteht, ihr armen Toren,
und fühlt euch einsam und verloren.
Verzagt nicht, meine lieben Diener,
wird nicht die Welt durch mich auch schöner?
Meinen Freunden helf` ich fühlen, singen, flirten,
Helden spielen, mach` sie stark fürs Diskutieren,
Provozieren, Randalieren.

Ob ihr mit Lust und Freude Kinder zeugt,
ob traurig Tote ihr begrabt:
Ich bin das Maß, an dem sich alles mißt.
Ich hab` die Hand im Spiel,
wenn einer alles hat und doch so viel vermißt.
Wenn euch das Sein nur sinn - und freudenlos erscheint,
vergeßt mein nicht:
Ob fruchtbar oder furchtbar,
ich bin der Geist, der euch vereint.

Von Jürgen Neffe --- Süddeutsche Zeitung.