Der Kanon
von Josef Weinheber

 
  
Ein Glas Wein.

Gar lieblich geht es ein.
Der Erde Kraft, der Hügel Grün,
Der ganze Himmel lacht darin :
Ein Glas Wein !


Zwei Glas Wein.

Wir wollens nicht verschrein.
Die Zeiten, sie sind hart genug.
Schon schmeckst du ihn, den herben Zug:
Zwei Glas Wein !

 

Drei Glas Wein.

Wie ist die Welt gemein !
Die Mühlen gehn, es bläst der Stolz.
Auf einem flotten Flötenholz :

Drei Glas Wein !

 

Vier Glas Wein.

Vom Herzen sinkt der Stein.
Es steigt der Geist zum Himmel auf,
Nun laß der Welt den alten Lauf :
Vier Glas Wein !

 


Fünf Glas Wein.
Gesungen muß es sein.
Die Ader schwillt, die Schläfe glüht,
Ein schönes Lied, ein braves Lied :
Fünf Glas Wein !

 


Sechs Glas Wein.
Die schlanken Jungferlein !
Und kann man nicht, 
man möchte doch:
Sechs Glas Wein !

 

Sieben Glas Wein.
Die Welt im Dämmerschein.
Wir wollen uns nur jetzt geschwind
Versichern, daß wir nüchtern sind :
Sieben Glas Wein !
Acht Glas Wein.
Ist ein Ringelreihn,
Nun hast du leider nicht mehr ganz
Gewalt über den Gliedertanz :
Acht Glas Wein !

Neun Glas Wein !

Beim zehnten schläfst du ein.
Die Selbstkritik geht ganz verlorn,
O Teufelsspuk, o Gottes Zorn :

Neun Glas Wein !
 
Zehn Glas Wein !

Da sitzest du - allein.
Der Mond in seiner Trauerpracht
Hält über deinem Schädel Wacht :

Zehn Glas Wein !